Im Übergangswohnheim Lietzen Nord, 8 km südlich von Seelow, lebten bis zu seiner Auflösung im Dezember 2017 Geflüchtete und Asylbewerber aus Tschetschenien, Vietnam, Pakistan, Afghanistan, Iran, Syrien und Kamerun, die ich dort über einen Zeitraum von 2 Jahren porträtierte. Das Heim oder "Camp" bestand aus 4 Gebäuden mit großzügig betonierten Freiflächen und schmiegte sich, nur durch einen löchrigen Zaun getrennt, an einen bis an den Horizont reichenden, sanft hügeligen Acker und an den landwirtschaftlichen Betrieb der Komturei Lietzen auf der anderen Seite. Kontakt zwischen den Bewohnern des Camps und der einheimischen Bevölkerung, die im 2 km entfernten Dorf Lietzen lebt, gab es nicht. In den Schulferien und am Wochenende verkehrte nicht einmal der Bus zwischen Seelow und Lietzen. Wer dann nach Seelow wollte, musste laufen oder fuhr auf einem klapprigen Fahrrad.
Ich kam erstmals im Oktober 2015 nach Lietzen, um einen jungen Syrer zu besuchen, den ich kurz zuvor in Guben kennengelernt hatte. Seit 1992 zieht es mich regelmäßig nach Guben und Gubin, einer deutsch-polnischen Stadt, die mich schon immer fasziniert hat und wo meine Ausstellungen "Hutmacher" über die Arbeit in den Gubener Hutwerken, sowie "Guben/Gubin" und "Kommen - Bleiben - Gehen" entstanden sind. Für letztere porträtierte ich schon 2002 Asylbewerber in einem Gubener Heim, aber auch die arbeitslosen Hutmacher, nachdem die Gubener Hutwerke Ende 1999 geschlossen wurden. Die Ausstellung wurde anschließend auf Plakatwänden im Stadtraum von Guben und Gubin gezeigt und musste vom Betrachter erwandert werden. Im Oktober 2015 nahm ich diesen Faden wieder auf, da an diesem Tag die Gubener Neonazi-Initiative "Nein zum Heim" eine Demonstration vor einem der beiden Asylbewerberheime angekündigt hatte, 16 Jahre nachdem in Guben der 28-jährige Algerier Farid Guendoul von Neonazis zu Tode gehetzt worden war. Ich gesellte mich sofort zu den Heimbewohnern, die etwas unschlüssig vor ihrem Heim standen und lernte dort den jungen Syrer Omar kennen, der zufällig kurz zu Besuch bei einen Freund im Gubener Heim war, aber eigentlich in Lietzen lebte.
So kam ich nach Lietzen, und aus einem Besuch wurden 2 Jahre, in denen ich immer wiederkehrte. Die Bewohner freuten sich, dass ich mich für sie interessierte, da sie sonst keine privaten Kontakte zu Deutschen hatten. Sie luden mich zum Essen ein, erzählten mir von ihren Sorgen und zeigten mir ihr bisheriges Leben auf den kleinen Monitoren ihrer Mobiltelefone, die ganze Familienalben ersetzten.
Ich hatte immer meine hölzerne Plattenkamera dabei und verabredete mich mit denen, die Lust hatten, zu einem Fototermin, meist an gleicher Stelle, einer Ecke am Rande des riesigen Ackers, im Winter eine karge Scholle, auf der im Frühjahr plötzlich die Ähren in die Höhe schossen, so wie die Kinder, die im "Camp" aufwuchsen. Ich wollte die Bewohner nicht in ihren schäbigen, überfüllten Zimmern fotografieren, sondern an einem neutralen Ort, einer fast leeren Landschaft, in der sie dennoch ihre Würde bewahren konnten. Die Landschaft hatte für mich etwas Biblisches und symbolisierte auch den Anfang von etwas Neuem, wie dem neuen Leben, dem die Porträtierten hier entgegenblickten. Die Verwendung der Plattenkamera führte dabei zu einer gegenseitigen, höheren Aufmerksamkeit. Bei den folgenden Besuchen brachte ich Ihnen immer ein paar kleine Kontaktabzüge ihrer Porträts mit.
Die meisten Bewohner zogen nach der Anerkennung ihres Status als Asylbewerber weiter, in eine eigene Wohnung, oft in andere Bundesländer, aber auch in die umliegenden Städte Seelow, Müncheberg und Frankfurt/Oder. Es zogen auch viele Familienangehörige aus den Fluchtländern zu ihnen nach Deutschland. Die Bewohner mit ungeklärtem Status hingegen blieben und leben nun im Übergangswohnheim Gusow-Platkow, in das die übriggebliebenen "Lietzener" umgesetzt wurden.
Meine vorliegende Arbeit, die in ihrer Gänze aus 40 Fotografien und Bildtexten besteht, ist lediglich der Anfang eines langfristigen Projektes. In den kommenden Jahren möchte ich als Chronist festhalten, wie sich die Lebensläufe dieser Menschen entwickeln werden. Was wird aus ihren Vorstellungen von einer sichereren und besseren Zukunft in Deutschland? Bleiben sie am Rande der Gesellschaft, so wie im Lietzener Camp, oder werden sie ein Teil davon?